Psychoanalytikerinnen. Biografisches Lexikon

Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland

Biografien

Entwicklung nach 1968

Auf dem Hintergrund des sich verändernden politischen und kulturellen Klimas zur Zeit der 68er Studentenbewegung nahm das Interesse an der Psychoanalyse deutlich zu. Die studentische Linke interessierte sich besonders für die freudomarxistischen Klassiker Wilhelm Reich, Erich Fromm, Ernst Simmel und Siegfried Bernfeld. Es gelang der Psychoanalyse aber nicht, nachhaltig an deutschen Universitäten Fuß zu fassen.
Eine Ausnahme bildet das Institut für Psychoanalyse am Fachbereich Psychologie der Frankfurter Goethe-Universität, das 1972 im Gefolge der Studentenbewegung aus einem Lehrstuhl Alexander Mitscherlichs entstand. Geleitet wurde es zunächst von Mitscherlich, dann ab 1977 von Hermann Argelander und von 1987 bis 2002 von Christa Rohde-Dachser. Als Arbeitsbereich Psychoanalyse des Instituts für Psychologie wurde es bis 2022 von dem Psychoanalytiker Tilmann Habermas geleitet. Im Zusammenhang mit Habermas' Emeritierung wurde der Arbeitsbereich abgeschafft, womit eine der letzten beiden - neben dem von Cord Benecke besetzten Lehrstuhl an der Universität Kassel - psychoanalytisch ausgerichteten Professuren der Klinischen Psychologie in Deutschland verschwand (siehe Studentische Interesseninitiative Psychoanalyse an der Goethe-Universität). Als Reaktion auf die Verdrängung der Psychoanalyse durch die behavioristische bzw. kognitivistische Verhaltenstherapie gründete Christa Rohde-Dachser gemeinsam mit Jürgen Körner 2009 eine eigene private Hochschule für Psychoanalyse, die Internationale Psychoanalytische Universität Berlin.
Der Bedeutungszuwachs, den die Psychoanalyse in den 1980er Jahren durch die Theorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan erfuhr, berührte die psychoanalytische Praxis in Deutschland wenig. Die Lacan-Rezeption beschränkte sich vor allem auf philosophische und literaturwissenschaftliche Kreise. Besser stand es mit der Verankerung der Psychoanalyse als Heilmethode: Sie war nach dem Krieg die erste Psychotherapie, die 1967 dank der Studien von Annemarie Dührssen von den gesetzlichen Krankenkassen anerkannt wurde. Mit der Medizinalisierung und der Orientierung am Berufsbild des Facharztes droht jedoch das kulturkritische Potential der Freudschen Lehre in Vergessenheit zu geraten. Dass sich die Selbst- und Narzissmustheorie Heinz Kohuts, die sich auf die inneren Prozesse des Individuums konzentriert, als dominierende Lehrmeinung etablieren konnte, hat Kritikern zufolge diese Entwicklung noch gefördert.
Nachdem die IPV es abgelehnt hatte, den Internationalen Psychoanalytischen Kongress 1981 in Berlin stattfinden zu lassen, setzte Anfang der 1980er Jahre in der deutschen Psychoanalyse eine intensive Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte während der NS-Zeit ein. Einen Höhepunkt bildete die Begleitausstellung "Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter..." zum 34. Internationalen Psychoanalytischen Kongress, der 1985 in Hamburg erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf deutschem Boden stattfand.

DDR / Ostdeutschland

In der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik wurde die Psychoanalyse wie in der Sowjetunion für antihuman, wissenschaftsfeindlich und gesellschaftspolitisch untragbar erklärt und offiziell weder gelehrt noch praktiziert. Medizin, Biologie, Psychologie, Pädagogik, Sprachwissenschaft und Philosophie erfuhren eine ideologische Festlegung auf die Reflextheorie des russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow. Später trat an die Stelle der klassischen Reflexlehre die Orientierung an der Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule. Seit den 1960er Jahren wurden in der DDR praktisch alle international anerkannten psychotherapeutischen Methoden praktiziert, wenn auch sprachgeregelt.
Einen gewissen Einfluss hatte die Neoanalyse Schulz-Henckes, dessen Rückführung der Psychoanalyse auf "das Beobachtbare" der Forderung nach einer materialistisch fundierten Psychologie ebenso entgegenkam wie seine Ablehnung der Libidotheorie. Eine Berufung auf den Lehrstuhl für Psychotherapie nach Greifswald lehnte Schulz-Hencke 1947 aber ab. Unter den wenigen Psychoanalytikern, die nach der Teilung in der DDR geblieben waren, war Alexander Mette, ein Lehranalysand von Therese Benedek und Mitglied der DPG (bis 1954) und der KPD. Er zog jedoch der Ausübung seines Berufs als Analytiker eine Karriere in der Gesundheitspolitik vor.
Eine Wiederbelebung der Psychoanalyse in Ostdeutschland signalisierte das 1989 unmittelbar vor dem Mauerfall an der Universität Leipzig abgehaltene Freud-Symposium. 1990 begann die Re-Institutionalisierung der Psychoanalyse mit der Gründung regionaler Ausbildungsinstitute: des Sächsischen Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie – Therese Benedek in Leipzig (seit 2008 Ausbildungsinstitut der DPV), des Instituts für Psychotherapie und Angewandte Psychoanalyse Jena, der Brandenburgischen Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie in Cottbus und des Instituts für Psychotherapie und Psychoanalyse Mecklenburg-Vorpommern in Rostock. 1999 folgte die Gründung des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Magdeburg der DPG.

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