Tatjana Aleinikowa Lou Andreas-Salomé (Deutschland) Esther Aptekmann (Schweiz) Rosa Awerbuch Lenina Bondarenko (Osteuropa) Fanny Chalewsky (Schweiz) Sophie Erismann (Schweiz) Lia Geschelina |
Tatjana Ignatjewna Goldowskaja Ekaterina Goltz Scheina Grebelskaja (Schweiz) Natalia Iljina Sophia Liosner-Kannabich Fanja Lowtzky (Israel) Anna Mänchen-Helfen (Österreich) Sara Neiditsch |
Militsa Netschkina Mira Oberholzer (Schweiz) Tatjana Pushkaryeva (Osteuropa) Angela Rohr Tatiana Rosenthal Vera Schmidt Anna Smeliansky (Israel) Sabina Spielrein |
Tatjana Weniaminowna Aleinikowa wurde in Rostow am Don geboren. Nach ihrem Abschluss in Human- und Tierphysiologie an der Fakultät für Biologie und Bodenkunde der Rostower Staatlichen Universität [Ростовском госуниверситете (РГУ)] im Jahr 1954 lehrte sie bis 1960 Normale Physiologie an der Medizinischen Fakultät Rostow. 1958 promovierte sie über die Wiederherstellung des kortikalen visuellen Systems nach dessen Ausfall im frühen Lebensalter.
Von 1960 an war Tatjana Aleinikowa an der Rostower Staatlichen Universität als Psychophysiologin und Neurophysiologin tätig. Sie war Leiterin des Labors zur Erforschung visueller Informationsverarbeitung und lehrte am Department für Human- und Tierphysiologie, zunächst als Assistentin, dann als Assistenzprofessorin und ab 1984 als ordentliche Professorin, nachdem sie sich 1983 über die visuelle Informationsverarbeitung des Froschs habilitiert hatte. Seit 1995 war sie Mitglied der New Yorker Akademie der Wissenschaften.
1960 hatte sie damit begonnen, an der Rostower Universität auch Einführungen in die Psychoanalyse anzubieten. Solange Freuds Lehre in Russland offiziell nicht zugelassen war, vermittelte sie die psychoanalytischen Inhalte unter dem Deckmantel der Physiologie der höheren Nerventätigkeit, ab 1985 dann in einem Grundkurs Psychoanalyse für Philosophen, Biologen und Psychologen. Seit 1996 praktizierte Tatjana Aleinikowa als psychoanalytisch orientierte Psychotherapeutin. 1997 wurde sie Mitglied der Rostower Psychoanalytischen Vereinigung, deren Ehrenpräsidentin sie ab 2002 war, und 2004 Mitglied der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung. Seit 2007 gehörte sie auch dem Europäischen Psychotherapieverband an.
Aus Aleinikowas Feder stammen ca. 300 wissenschaftliche Publikationen über Themen aus den Bereichen Neurophysiologie, Psychophysiologie, Neurokybernetik, Psychoanalyse und "Psychokorrektur". Auf der Grundlage von Neurophysiologie, Psychophysiologie und Psychoanalyse entwickelte sie ihren eigenen interdisziplinären psychotherapeutischen Ansatz und wurde zur Begründerin der Rostower psychoanalytischen Schule. Dabei seien nicht nur die Psychodynamik (im Freudschen Sinn) des Analysanden und sein soziales Umfeld zu berücksichtigen, sondern auch seine neurophysiologischen Funktionen und sein psychophysiologischer Persönlichkeitstypus.
Tatjana Aleinikowa war mit dem russischen Biologen Gennadij Iwannikow (*1930) verheiratet, die Ehe dauerte nur einige Jahre. Sie hatte einen Sohn, Alexander Gennadjewitsch Iwannikow (*1955), der als Dichter bekannt wurde, und eine Tochter, Anna Juriewna Aleinikowa (*1964). (Artikelanfang)
Rosa Abramowna Awerbuch (auch: Roza Averbukh) wurde in Kasan in der russischen Republik Tatarstan geboren. Ihre jüngere Schwester Rebekka Abramowna Awerbuch war eine bekannte Historikerin. Rosa Awerbuch besuchte bis 1899 das Mädchengymnasium in Kasan und studierte von 1901 bis 1909 Medizin in Bern und Zürich, wo sie 1909 promovierte. Möglichweise kam sie hier mit dem Kreis um C. G. Jung in Kontakt und lernte die Psychoanalyse kennen. Sie kehrte nach Kasan zurück und schloss 1911 ihr Studium an der medizinischen Fakultät der Kasaner Universität ab. Von 1912 bis 1917 engagierte sie sich in der gewählten regionalen Verwaltung, die u. a. für den Aufbau des Gesundheitswesens zuständig war. 1917 nahm sie ihre Tätigkeit an der Kasaner Universitätsklinik auf und lehrte von 1921 bis 1923 am Klinischen Institut Kasan.
1921 erschien ihre russische Übersetzung von Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse. 1922 wurde sie Mitglied der von Alexander Lurija im gleichen Jahr gegründeten Kasaner Psychoanalytischen Vereinigung. Dort referierte sie im September 1922 über die psychosexuellen Motive eines Intellektuellen, der sich der Räteregierung widersetzt hatte, als diese zur Bekämpfung der Hungersnot in Russland Kirchenvermögen konfiszierte. Ihr Beitrag wurde von ihrem Kollegen Nikolaj Ossipow heftig kritisiert, der darin eine Verletzung des Gebots politischer Abstinenz sah. Rosa Awerbuch gehörte wie Lurija zu einer Gruppe Kasaner Analytiker:innen, die für die Vereinbarkeit von Psychoanalyse und Marxismus eintraten.
1923 zog sie nach Moskau und trat der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung bei, deren Mitglied sie bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1930 war. Sie war Mitarbeiterin am Staatlichen Institut für Psychoanalyse, wo sie ein Seminar zur Psychoanalyse religiöser Systeme abhielt, und Assistenzärztin in dem von Mosche Wulff geleiteten psychoanalytischen Ambulatorium. Sie war auch Mitarbeiterin in Vera Schmidts psychoanalytischem Kinderheim-Laboratorium. Von 1925 an war sie außerdem am Institut für experimentelle Psychologie tätig und gehörte zum Kreis um den sowjetischen Psychologen Lew Wygotski. Einer ihrer Schwerpunkte war die psychoanalytische Deutung des Werks von Wassili Rosanow, dessen philosophische Studien, insbesondere seine Schriften über Religion und Sexualität, ihrer Ansicht nach den Theorien Sigmund Freuds sehr nahe kommen. (Artikelanfang)
Die russische Ärztin Lia Solomonowna Geschelina gehörte in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zu den Mitarbeiter:innen des Staatlichen Instituts für Psychoanalyse und des psychoanalytischen Kinderheim-Laboratoriums Vera Schmidts in Moskau. Sie war ab 1924 Mitglied der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung [Русское психоаналитическое общество] bis diese 1930 im Zuge der stalinistischen Kulturrevolution aufgelöst wurde.
In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre arbeitete Lia Geschelina als Pädologin in Moskau. Aus dieser Zeit datieren ihre in der Zeitschrift Pedologija veröffentlichte Artikel über das moderne Vorschulkind. Darin beschrieb sie anhand einer 1925/1926 von ihr durchgeführten Untersuchung von Moskauer Kindergartenkindern den Einfluss sozialer und ökonomischer Bedingungen auf die körperliche Entwicklung von Kindern aus Arbeiter- und Angestelltenfamilien. In den 1930er Jahren gehörte sie wie Vera Schmidt und Rosa Awerbuch dem Forschungsteam des sowjetischen Entwicklungspsychologen Lew Wygotski an, des Begründers der Kulturhistorische Schule. Geschelinas Aufzeichnungen von Wygotskis Untersuchungsprotokollen über behinderte Kinder sind nach ihrem Tod verloren gegangen.
Bekannt wurde besonders eine experimentelle Studie zur Struktur und Entwicklung der Wahrnehmungsfunktion, die Lia Geschelina als Mitarbeiterin Wygotskis um 1930 durchführte (Wygotski 1930). Sie verglich normale Kinder mit taubstummen oder geistig zurückgebliebenen Kindern und konnte nachweisen, dass Sprache in einem frühen Alter die Entwicklung von anschaulichem Denken und visueller Wahrnehmung beeinflusst und verändert. 1949 verfasste sie gemeinsam mit Roman Y. Lyusternik eine Studie über die Anwendung von Schlaftherapie bei schizophrenen Patienten. In der Sowjetunion zählte sie zu den Psychiater:innen, die sich während der 1960er Jahre für die psychotherapeutische Behandlung von Schizophrenen einsetzten. (Artikelanfang)
Die russische Psychiaterin Tatjana Ignatjewna Goldowskaja war von 1927 bis 1930 außerordentliches Mitglied der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung (RPV) [Русского психоаналитического общества]. Die 1922 von Iwan Jermakow und Mosche Wulff gegründete RPV wurde 1930 offiziell aufgelöst. T. I. Goldowskaja war in den 1920er/1930er Jahren Assistenzärztin am Institut für neuropsychiatrische Prophylaxe [Институт невропсихиатрической профилактики] in Moskau, das von dem führenden sowjetischen Psychiater Lew Markowitsch Rosenstein geleitet wurde. Das Institut, vormals eine Poliklinik, bestand aus einer Ambulanz, mehreren Laboratorien und einer Abteilung für Psychohygiene, die Untersuchungen in Fabriken und Betrieben durchführte.
Als Mitarbeiterin Lew Rosensteins war Goldowskaja an der Entwicklung der theoretischen Grundlagen für eine psychohygienische Neuausrichtung der sowjetischen Psychiatrie beteiligt. Ihr Ansatz, bestehend aus einer Verbindung medizinischer Prävention mit Psychohygiene und Pädologie, der Reflexologie Bechterews und der Psychoanalyse Freuds, sollte nicht nur für psychiatrische Aufgaben, sondern auch im Bereich der Erziehung und Bildung angewendet werden. Psychohygiene und Pädologie wurden 1936 allerdings vom ZK der KPdSU verurteilt - im gleichen Jahr verbot Stalin die Lehre Freuds.
Seit den 1940er Jahren war Tatjana Ignatjewna Goldowskaja als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moskauer Staatlichen Forschungsinstituts für Psychiatrie tätig. 1964 habilitierte sie sich an der Staatlichen Medizinischen Pawlow-Universität Rjasan. Sie verfasste zahlreiche Arbeiten zu klinisch-sozialen und organisatorischen Fragen der psychiatrischen Versorgung in der Sowjetunion.
Möglicherweise war sie mit E. D. Goldowsky verwandt, Mitglied einer psychoanalytischen Gruppe in Kiew, der ebenfalls zwischen 1927 und 1930 außerordentliches Mitglied der RPV war. (Artikelanfang)
Ekaterina Pawlowna Goltz wurde in Moskau als Tochter eines Ingenieurs geboren. Ihr Bruder Georgi Pawlowitsch Goltz war ein bekannter sowjetischer Architekt. Nach Abschluss ihres Medizinstudiums praktizierte sie als Fachärztin für Physiologie. 1927 wurde sie außerordentliches, 1930 ordentliches Mitglied der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung (RPV). Ende 1927 hielt sie dort einen Vortrag mit dem Titel "Beobachtungen während des Erdbebens in der Krim". Darin beschrieb sie die psychischen Reaktionen von Überlebenden des Erdbebens, wie regressives Verhalten, Störungen der Zeitwahrnehmung und eine Herabsetzung der Über-Ich-Kontrolle. Bei einigen Personen, die überhaupt nicht auf die Gefahr reagierten, schloss sie auf einen unbewussten Todeswunsch.
Während der stalinistischen Kulturrevolution wurde die RPV 1930 aufgelöst. Ekaterina Goltz, die bei der Familie ihres Bruders in der Moskau lebte, arbeitete in den 1930er Jahren als Physiologin am Allunions-Institut für experimentelle Medizin in Moskau.
1939 wurde sie verhaftet, vermutlich weil sie zum Freundeskreis um Jewgenia Khayutina gehörte, der Ehefrau von Nikolai Jeschow, Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, der selbst Opfer der stalinistischen Säuberungen wurde. Ekaterina Goltz wurde 1940 wegen "konterrevolutionärer Agitation und antisowjetischer Verbindungen" zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt. Während dieser Zeit arbeitete sie als Ärztin im Lagerkrankenhaus von Sevzheldorlag und referierte 1941 auf einer Pellagra-Konferenz in Knyazhpogost über "Avitaminose des Auges". Im April 1944 wurde sie aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig entlassen. Auf dem Weg nach Hause starb sie jedoch plötzlich, vermutlich an einem Schlaganfall. (Artikelanfang)
Natalia Nikolajewna Wokatsch-Iljina wurde in eine Adelsfamilie in Moskau geboren als Tochter des Juristen Nikolai Antonowitsch Wokatsch und seiner Frau Maria Andrejewna Muromtsewa. Natalia Wokatsch studierte Literatur an den von Wladimir Guerrier eingerichteten Moskauer Höheren Kurse für Frauen, bevor sie 1906 den ebenfalls aus einer aristokratischen Familie stammenden russischen Philosophen Iwan Alexandrowitsch Iljin (1883-1954) heiratete.
Iwan Iljin war bei Hanns Sachs in Analyse und 1914 für ca. sechs Wochen bei Sigmund Freud in Wien. Auch Natalia Iljina-Wokatsch lernte während dieses Wien-Aufenthalts Freud kennen. Ob sie auch eine Analyse unternommen hat, ist nicht bekannt. 1922 gehörte sie jedenfalls wie ihr Mann in Moskau zu den Gründungsmitgliedern der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung.
Im gleichen Jahr wurde Iwan Iljin wegen antikommunistischer Betätigung zur Verbannung verurteilt. Natalia Iljina und ihr Mann zählten nach der Revolution von 1917 zu den Gegnern der Bolschewiki und wurden 1922 zusammen mit anderen Wissenschaftlern, Philosophen und Schriftstellern auf einem der "Philosophenschiffe" ins Exil geschickt. Sie ließen sich in Berlin nieder, wo Iwan Iljin am Russischen Wissenschaftsinstitut Rechtsphilosophie lehrte. Trotz seiner Sympathie für den Faschismus erhielt Iljin nach Hitlers Machtergreifung Berufsverbot. Die Iljins emigrierten 1938 in die Schweiz und lebten bis an ihr Lebensende in Zollikon.
Natalia Iljina verfasste philosophische und historische Studien und übersetzte gemeinsam mit ihrem Mann Bücher und Aufsätze ins Russische. Als ihr wichtigstes Werk gilt Izgnanie Normannov [Die Vertreibung der Normannen], worin sie die sog. Normannentheorie eines skandinavischen Ursprungs Russlands als russophobe Geschichtsklitterung kritisierte und die Hypothese ostslawischer Wurzeln der Rus vertrat. Mit dieser "antinormannistischen" Position befand sie sich im Einklang mit der sowjetischen Geschichtsschreibung. (Artikelanfang)
Die in Witebsk, Belarus, geborene Sophia Abramowna Liosner zählt zu den ersten Psychiaterinnen in Russland. 1894 begann sie ein naturwissenschaftliches Studium an der Sorbonne in Paris, wechselte dann aber nach Montpellier an die medizinische Fakultät, wo sie 1903 über die Verwendung von Schutzmasken bei Operationen promovierte.
Ein Stellenangebot in Algerien lehnte sie ab und kehrte stattdessen nach Russland zurück. In diese Zeit fiel die Ehe mit ihrem ersten Mann, einem damals bekannten Psychiater. Sophia Liosner arbeitete als Landärztin im Zwenigoroder Bezirk und legte dann, nachdem sie sich in St. Petersburg weitergebildet hatte, 1907 die Prüfung zur Erlangung des Arzttitels ab. Danach arbeitete sie in der privaten psychiatrischen Juri Loewenstein-Klinik [Лечебница Юрия Левенштейна] und nahm 1911 am Ersten Kongress der Russischen Gesellschaft der Psychiater und Nervenärzte teil.
1917 erwarb Sophia Liosner in Pokrowskoje-Streschnewo nordwestlich von Moskau ein Herrenhaus und richtete dort ein privates psychiatrisches Sanatorium ein. Zwei Jahre später wurde das Streschnewo-Sanatorium vom Moskauer Sowjet der Arbeiter- und Rotarmistendeputierten kommunalisiert. Auch ihr zweiter Ehemann, der Psychiater und Psychoanalytiker Juri Wladimirowitsch Kannabich (1872-1939), praktizierte hier von 1921 bis 1938, weshalb die psychiatrische Klinik, bekannt als ПКБ №12, nach ihm benannt wurde.
Juri Kannabich war 1922 Mitgründer der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung (RPV) und von 1928 bis 1930 deren letzter Präsident. Sophia Liosner-Kannabich war ebenfalls Mitglied der RPV bis diese 1930 im Zuge der stalinistischen Kulturrevolution aufgelöst wurde. Von 1936 bis 1941 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Moskauer Poliklinik des Zentralen Psychiatrischen Instituts des Volkskommissariats für Gesundheitswesen der RSFSR. Ab 1942 arbeitete sie im Bereich der psychiatrischen Überprüfung von Arbeitsunfähigkeit.
1934 haben Sophia Liosner und Juri Kannabich eine Pseudohalluzination beschrieben, die als Kannabich-Liosner-Symptom [Каннабиха–Лиознера симптом] bekannt wurde. Sie nimmt die Form einer lautlosen Begrüßung durch einen Unbekannten an, der den Patienten mit seinem Kosenamen anspricht, und gilt als Kennzeichen einer beginnenden oder rudimentären Schizophrenie. (Artikelanfang)
Sara Adolfowna Neiditsch* wurde in eine jüdische Familie in Pinsk geboren, das damals zum Russischen Reich gehörte. Sie war eines von zehn Kindern des Kaufmanns Jehuda-Adolf Neiditsch und seiner Frau Bracha-Bertha Neiditsch. Nach dem Tod ihrer Eltern kümmerte sie sich in Pinsk um ihre jüngste Schwester Olga, bis sie gemeinsam zu ihrem Bruder Isak Neiditsch nach St. Petersburg zogen und später mit ihm nach Moskau. 1901 begann Sara Neiditsch ihr Medizinstudium in Halle, setzte es in Bern und von 1905 bis 1907 in Zürich fort. Hier freundete sie sich mit ihrer Studienkollegin Tatiana Rosenthal an.
1907 kehrte Sara Neiditsch nach Russland zurück, wo sie die frühen Ansätzen der Psychoanalyse erkundete und als erste darüber berichtete. 1910 promovierte sie in Berlin über die Frage der Ansteckung von Krebs. Von Sommer 1909 mindestens bis Winter 1912/13 war sie als Medizinstudentin (vermutlich Postdoktorandin) an der Universität Genf eingeschrieben. Bis 1914 arbeitete sie an der Augenklinik der Universität Genf. Ob sie vor oder nach der Oktoberrevolution in Russland tätig war, ist eher unwahrscheinlich, da ihre Geschwister vor den Bolschewiki fliehen mussten.
Ende 1920 war Sara Neiditsch wieder in Berlin, wo sie in Max Eitingons neu eröffneter Psychoanalytischen Poliklinik Analysen mit Patient:innen durchführte. Als sich 1921 Tatjana Rosenthal in Petrograd das Leben nahm, verfasste Neiditsch einen Nachruf auf ihre Freundin und Kollegin und außerdem einen Bericht über die Lage der Psychoanalyse in Russland nach 1917.
Wahrscheinlich kehrte Sara Neiditsch nicht nach Russland zurück, ihr Name tauchte im Mitgliederverzeichnis der 1922 gegründeten Russischen Psychoanalytischen Vereinigung nicht auf. Stattdessen ging sie nach Paris, wo sich ihr Bruder Isak als Alkohol- und Zuckerfabrikant etabliert hatte. Dort praktizierte sie in den 1920er und 1930er Jahren als Psychoanalytikerin, gehörte jedoch keiner psychoanalytischen Vereinigung an. 1925 nahm sie als "membre adhérent" am 29. Kongress der "Médecins Aliénistes et Neurologistes de France et des Pays de Langue Française" in Paris teil.
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich 1940 gelang den meisten der Familie Neiditsch die Flucht in die USA. Sara Neiditsch blieb mit ihrer Schwester Fania in Paris und überlebte die deutsche Besatzungszeit im Versteck. Auch nach Kriegsende lebte sie bis zu ihrem Tod in Paris. (Artikelanfang)
Die sowjetische Historikerin Militsa (Miliza) Wassiljewna Netschkina, geboren in Nischyn, Ukraine. Ihr Vater war Ingenieur und Direktor der Berufsschule in Nischyn. 1918 begann sie ihr Studium an der Fakultät für Geschichte und Philologie der Universität Kasan, das sie 1921 abschloss. 1922 gehörte sie wie Rosa Awerbuch zu den ersten Mitgliedern der von Alexander Luria im gleichen Jahr gegründeten Kasaner Psychoanalytischen Vereinigung. Die Kasaner Gruppe führte vermutlich als erste in Russland eine Diskussion über die Vereinbarkeit von Psychoanalyse und Marxismus. 1923 hielt die Netschkina in der Kasaner Vereinigung einen Vortrag über psychoanalytische Mechanismen in Gustav Meyrinks Golem.
1924 zog Militsa Netschkina nach Moskau und unterrichtete politische Ökonmie und Geschichte an der Arbeiterfakultät der Staatlichen Universität Moskau sowie Geschichte der UDSSR an der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens. Gleichzeitig war sie von 1924 bis 1927 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Russischen Assoziation der sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute. 1925 heiratete sie den Chemiker und Pädagogen David Arkadjewitsch Epstein (1898-1985), den sie an der Arbeiterfakultät kennengelernt hatte.
1936 promovierte sie bei Michail Pokrowski an der Staatlichen Universität Moskau über "A. S. Gribojedow und die Dekabristen". Im gleichen Jahr begann ihre langjährige Tätigkeit am Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, wo sie bis 1985 zur russischen Geschichte lehrte und forschte. Ihr mit drei Leninorden und dem Stalinpreis ausgezeichnetes Werk ist vor allem der Geschichte der Dekabristen und der revolutionären Bewegungen im Russland des 19. Jahrhunderts gewidmet. (Artikelanfang)
Angela Rohr wurde in Znaim, Mähren, als Angela Helene Müllner geboren. Ihr Vater war Eisenbahnschaffner und ein Anhänger des Deutschnationalen Georg Schönerer. Sie brach mit ihren Eltern, verließ noch vor der Matura die Schule und heiratete 1911 den mittellosen polnischen Expressionisten Leopold Hubermann (1888-1928), Vater ihrer Tochter Ligeia. Nach der Trennung von ihm ging sie 1914 nach Paris und studierte dort als Gasthörerin Medizin. Im selben Jahr reiste sie zu einem Kuraufenthalt in die Schweiz und lebte dann in Zürich. Sie verkehrte in Dadaisten-Kreisen, ging 1916 eine zweijährige Scheinehe mit dem Berliner Publizisten Simon Guttmann (1891-1990) ein und freundete sich mit Rainer Maria Rilke an. Seit 1914 erschienen literarische Texte von ihr, vor allem in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion.
Anfang der 1920er Jahre kam sie nach Berlin, wo sie ab 1921 als Kandidatin Dr. Angela Hubermann an den Sitzungen des Berliner Psychoanalytischen Instituts (BPI) teilnahm. Sie interessierte sich besonders für Ethnopsychoanalyse und referierte am BPI z. B. über die Sexualsymbolik in ostafrikanischen Sprachen und den Krankheitsbegriff bei den Primitiven. Karl Abraham hob gegenüber Sigmund Freud ihr außergewöhnliches Verständnis für die Psychoanalyse hervor, und die IPV finanzierte ihr 1921 eine Tbc-Heilkur. In Berlin hörte sie außerdem die Vorlesungen des Arztes und Pharmakologen Louis Lewin.
Am BPI lernte sie den in Galizien geborenen Wilhelm Rohr (1899-1942) kennen, Medizinstudent und KPD-Mitglied und von 1923 bis 1924 außerordentliches Mitglied der DPG. Sie heiratete ihn 1924 und folgte ihm in die Sowjetunion. Beide waren ordentliche Mitglieder der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung (RPV), Wilhelm Rohr von 1924 bis 1930 und Angela Rohr von 1927 bis 1930. Sie war Mitarbeiterin des 1923 gegründeten Staatlichen Instituts für Psychoanalyse in Moskau und referierte über Themen wie Hysterieanalyse und Psychoanalyse und Religion. Nach der Schließung des psychoanalytischen Instituts 1925 und der Auflösung der RPV 1930 arbeitete Angela Rohr hauptsächlich als Journalistin für deutsche und Schweizer Zeitungen, vor allem für die Frankfurter Zeitung.
Nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion, wurden Angela und Wilhelm Rohr 1941 wie viele andere Ausländer als "Spione" verhaftet. Wilhelm Rohr starb vermutlich 1942 im Gefängnis von Saratow. Obwohl Bertold Brecht sich für Angela Rohr einsetzte, wurde sie zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt, auf die elf Jahre Verbannung in Sibirien folgten. Während der ganzen Zeit arbeitete sie als Ärztin und konnte so den Gulag überleben. 1957 wurde sie rehabilitiert und kehrte nach Moskau zurück. (Artikelanfang)
Tatiana Konradowna Rosenthal, eine Pionierin der Psychoanalyse in Russland, wurde in Minsk in eine jüdische Familie geboren. Ihre Eltern waren der Kaufmann Chonel Gidelewitsch Rosenthal und seine Frau Anna Abramowna Schabad. Sie studierte ab 1902 Medizin an der Universität Zürich, unterbrach ihr Studium aber mehrmals, um an der Revolution im russischen Kaiserreich teilzunehmen. Sie war in der jüdischen Arbeiterbewegung aktiv und schloss sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an. 1905 war sie Vorsitzende der Studentinnenverbände aller Frauenhochschulen in Petersburg. Ein Jahr später kehrte sie nach Zürich zurück und nahm ihr Medizinstudium wieder auf. 1909 promovierte sie bei dem Gynäkologen Theodor Wyder zum Doktor des Medizin.
Unter dem Eindruck der Lektüre von Sigmund Freuds Traumdeutung spezialisierte sich Tatiana Rosenthal auf die Psychiatrie. Ihre psychoanalytische Ausbildung erhielt sie am Burghölzli und bei Karl Abraham in Berlin. Sie reiste nach Wien, wo sie Freud kennenlernte und an den Sitzungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) teilnahm. 1911 wurde sie in die WPV und die Berliner Psychoanalytische Vereinigung (BPV) aufgenommen. Im gleichen Jahr trug sie in der BPV ihre psychoanalytische Interpretation von Karin Michaelis' Roman Das gefährliche Alter vor. Am Beispiel der 42-jährigen Heldin dieses Romans, die aus ihrer Ehe ausbricht, um ihr Emanzipationsideal zu verwirklichen, verdeutlichte Rosenthal den Zusammenhang zwischen Eheproblemen und zugrundeliegenden Kindheitskonflikten.
1912 kehrte Tatiana Rosenthal nach Russland zurück und arbeitete als Assistenzärztin im St. Petersburger Institut für Geisteskrankheiten. Als einzige Psychoanalytikerin in St. Petersburg setzte sie sich für die Verbreitung der Freudschen Lehre und deren klinische Anwendung ein. Nach der Oktoberrevolution wurde sie 1919 Assistentin für Psychotherapie an dem unter der Leitung von Wladimir Bechterew neugegründeten Forschungsinstitut für Gehirnpathologie. Sie hielt dort Vorlesungen über Psychoanalyse und führte als Leiterin der Poliklinik des Instituts Analysen mit neurotischen Patienten durch. 1920 übernahm sie die Leitung einer angegliederten Fürsorgeanstalt für zurückgebliebene Kinder, die sie nach psychoanalytischen Grundsätzen behandelte. Im gleichen Jahr hielt sie in Moskau einen Vortrag über Die Bedeutung der Freudschen Lehre für die Kindererziehung. Rosenthal strebte eine Integration von Marx und Freud an, von ihr soll die Idee zu Vera Schmidts Kinderheim-Laboratorium stammen.
Nachdem sie 1917 einen Band mit eigenen Gedichten veröffentlicht hatte, erschien zwei Jahre später der erste Teil ihres Essays über das Leiden und Schaffen Dostojewskis. Darin nahm Tatiana Rosenthal Thesen aus Sigmund Freuds späterer Abhandlung über Dostojewski und die Vatertötung vorweg, obwohl sie dessen "psychosexuellen Monismus" als treibende Kraft des künstlerischen Schaffens ablehnte. Der zweite Teil dieser Arbeit sowie zwei Aufsätze Über den Angsteffekt der Kriegsneurotiker und Über Adlers Individualpsychologie blieben unveröffentlicht. Gegen Ende ihres Lebens scheint sie sich der Individualpsychologie Alfred Adlers zugewandt zu haben.
Im Alter von 36 Jahren nahm sich Tatiana Rosenthal in Petersburg das Leben. Sie hinterließ einen kleinen Sohn. Ihre Freundin Sara Neiditsch schilderte sie in ihrem Nachruf als eine äußerlich kühle, tatkräftige und rationale, aber innerlich unruhige, romantisch-mystische Persönlichkeit mit hohen Idealen. Vermutlich hing ihr Freitod auch mit der Enttäuschung über die zunehmend repressiven politischen Verhältnisse in Russland zusammen. (Artikelanfang)
© Ergo-Verlag, Izhevsk
Die in Starokostjantyniw in der Ukraine geborene Vera Fjdorowna Schmidt stammte aus einer Ärztefamilie. Ihr Vater Fedor Feodosevich Yanitski war Militärarzt, ihre Mutter Elisaveta Yanitskaja eine der ersten Ärztinnen Russlands. Bis 1912 lebte Vera in St. Petersburg, wo sie Kurse der höheren Frauenbildung besuchte. Von 1913 bis 1916 studierte sie in Kiew Pädagogik und arbeitete nach der Oktoberrevolution von 1918 bis 1920 in der Abteilung für Schulwesen des Volkskommissariats für Aufklärung in Moskau. Seit 1913 war sie mit dem Politiker, Mathematiker und Geophysiker Otto Juljewitsch Schmidt (1891-1956) verheiratet, der zum Gründungskomitee der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung (RPV) gehörte und u. a. Leiter des sowjetischen Staatsverlags sowie Herausgeber der Psychologischen und Psychoanalytischen Bibliothek war.
1921 eröffnete Vera Schmidt in Moskau das psychoanalytische Kinderheim-Laboratorium Detski Dom, das sie bis 1925 leitete. In dieser Institution wurden zwei- bis vierjährige Kinder nach marxistischen und psychoanalytischen Prinzipien erzogen. Die Eltern waren überwiegend Parteifunktionäre, ein Sohn Stalins soll dabei gewesen sein, ebenso Vera Schmidts 1920 geborener Sohn Wladimir. Das chronisch unterfinanzierte Projekt erhielt von 1922 an Zuwendungen einer deutschen Bergarbeitervereinigung und wurde "Internationale Solidarität" getauft. Ziel der Erziehung im Kinderheim-Laboratorium war eine Sublimierung ohne Zwang. Die Kinder durften ihre sexuelle Neugierde befriedigen, Bestrafung und Verbote waren verpönt. Kulturell und sozial höherstehende Bedürfnisse sollten sich durch die positive Bindung des Kindes an eine einfühlsame Bezugsperson und den korrigierenden Einfluss des Kinderkollektivs entwickeln.
Dieses Erziehungskonzept Vera Schmidts wurde weit über die Sowjetunion hinaus bekannt, es inspirierte noch die antiautoritäre Kinderladenbewegung nach 1968 in Deutschland. 1923 reiste Vera Schmidt mit ihrem Mann nach Berlin und Wien, um Karl Abraham und Sigmund Freud über die Arbeit des Kinderheims zu informieren und um Unterstützung für ihr Projekt zu bitten. Ihre Ideen wurden damals teils mit Interesse - von Wilhelm Reich und Anna Freud -, teils skeptisch bis feindselig - von der IPA-Leitung und Ernest Jones - aufgenommen. Nach internen Konflikten und Gerüchten über angebliche sexuelle Experimente mit den Kindern ordnete der Große Rat der Volkskommissare 1925 die Liquidierung des Kinderheim-Laboratoriums an.
Vera Schmidt war seit 1922 Mitglied der RPV und von 1927 bis 1930 Sekretärin der Vereinigung. In den 1920er Jahren absolvierte sie offenbar ein Medizinstudium, denn ab 1927 führte sie den Doktortitel. Von 1925 bis 1929 arbeitete sie am Institut für höhere Nervenfunktionen der Kommunistischen Akademie in Moskau. Nach der Auflösung der RPV 1930 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin von Lew Wygotsky am Institut für experimentelle Defektologie der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der UdSSR. Sie starb im Alter von 48 Jahren an einem Schilddrüsentumor. (Artikelanfang)
Sabina Nikolajewna Spielrein wurde als ältestes von fünf Kindern in Rostow am Don geboren. Ihr Vater Naftuli Moschkowitsch Spielrein (vor der Russifizierung: Nikolai Arkadjewitsch Spielrein) war ein wohlhabender russisch-jüdischer Kaufmann, ihre Mutter Eva Markowna Ljublinskaja hatte Zahnmedizin studiert, übte diesen Beruf aber nicht aus. Sabina Spielrein besuchte bis 1904 das Mädchengymnasium in Rostow. Bereits während ihrer Schulzeit wurden bei ihr Symptome einer "psychotischen Hysterie" diagnostiziert, so dass ihre Eltern sie 1904 nach Zürich in die psychiatrische Klinik Burghölzli schickten. Sie wurde dort von Carl Gustav Jung behandelt und 1905 als geheilt aus der Klinik entlassen.
Noch im selben Jahr nahm sie ein Medizinstudium an der Universität Zürich auf, ihre Analyse setzte sie privat bei Jung fort. Zwischen ihnen entwickelte sich eine Liebesbeziehung, die der verheiratete Jung 1909 für beendet erklärte. Analyse und Beziehung waren Gegenstand eines Briefwechsels zwischen C. G. Jung und Sigmund Freud, der zu vermitteln suchte. 1911 promovierte Sabina Spielrein Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie, es war die erste psychoanalytisch orientierte Dissertation einer Frau. Anschließend reiste sie über München nach Wien, wo sie mit Freud zusammentraf und im Oktober 1911 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) wurde.
1912 erschien Sabina Spielreins wichtigste theoretische Schrift Die Destruktion als Ursache des Werdens. Darin nahm sie Überlegungen Freuds zum Todestrieb vorweg, der sich später in Jenseits des Lustprinzips auf sie bezog. Sie formulierte die These, dass sich der Sexualtrieb aus einer positiven und einer negativen Komponente zusammensetzt und zugleich Werde- wie Zerstörungstrieb ist, analog zur biologischen Zeugung, bei der in der Vereinigung der männlichen mit der weiblichen Zelle jede für sich vernichtet wird, damit Neues entsteht. Lust- und Angstgefühle seien die Reaktion des Ichs auf die der Sexualität innewohnende Tendenz zur Auflösung von Individualität, wobei beim Neurotiker die destruktive Komponente, der "Todesinstinkt", gegenüber der Liebeserregung überwiege.
Sabina Spielrein heiratete 1912 den russisch-jüdischen Arzt Pawel Naumowitsch Scheftel (1881-1937), ein Jahr später wurde ihre Tochter Renata geboren. Von 1912 bis 1914 lebte sie mit ihrer Familie in Berlin und veröffentlichte mehrere psychoanalytische Aufsätze zur Kinder- und Traumanalyse. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs zog sie in die Schweiz, während ihr Mann nach Russland zurückkehrte, um in sein Kiewer Regiment einzutreten.
Sabina Spielrein lebte ab 1915 mit ihrer Tochter in Lausanne und gründete dort 1919 die psychoanalytische Studiengruppe Cercle Interne. 1921 übersiedelte sie nach Genf und wurde Mitglied der von Edouard Claparède geführten Genfer psychoanalytischen Gesellschaft. Sie hielt Vorlesungen über Psychoanalyse und Pädagogik am Institut Jean-Jacques Rousseau und publizierte zahlreiche Arbeiten, darunter mehrere kinderanalytische Mitteilungen auf der Grundlage von Protokollen aus der Kinderzeit ihrer Tochter. 1922 trat sie von der WPV in die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse über. Ihr berühmtester Analysand in dieser Zeit war Jean Piaget.
1923 kehrte sie mit ihrer Tochter in das inzwischen sowjetische Russland zurück. Sie ließ sich in Moskau nieder und wurde Mitglied und Lehranalytikerin der ein Jahr zuvor gegründeten Russischen Psychoanalytischen Vereinigung (RPV). Sie hielt am Staatlichen Institut für Psychoanalyse Vorlesungen und Seminare über Kinderanalyse und arbeitete als Ärztin am Ambulatorium. Außerdem war sie Leiterin der Abteilung Kinderpsychologie an der Moskauer Universität und Mitarbeiterin an dem von Vera Schmidt geführten Kinderheim-Laboratorium.
Sabina Spielrein war eine Pionierin der Kinderanalyse und einer kognitions- und sprachwissenschaftlich untermauerten Psychoanalyse. Einer ihrer Schwerpunkte war die Erforschung kindlichen Denkens und der Sprache. Sie stellte die These auf, dass es autistische und soziale Sprachen gibt, wobei sich letztere aus ersteren entwickelten. 1923 hielt sie mehrere Vorträge in Zürich, Genf und Moskau zum Thema Aphasie. Ihrer Ansicht nach weisen die in der Aphasie auftretenden Denkstörungen Analogien zum frühkindlichen Denken auf.
1924 zog Sabina Spielrein wieder in ihre Heimatstadt Rostow am Don, lebte dort mit ihrem Mann Pavel Scheftel zusammen und bekam 1926 ihre zweite Tochter Eva. Sie arbeitete als Pädologin am Rostower prophylaktischen Schulambulatorium, wo sie Reihenuntersuchungen zur Früherkennung von Entwicklungsstörungen durchführte. Nach dem Verbot der Pädologie 1936 praktizierte sie noch als Ärztin. Obwohl die Psychoanalyse in der Sowjetunion verboten war, setzte sie ihre psychoanalytische Tätigkeit vermutlich bis Anfang der 1940er Jahre fort.
1942, nach der Einnahme Rostows durch die Deutsche Wehrmacht, wurden Sabina Spielrein und ihre beiden Töchter zusammen mit den übrigen Rostower Juden von einem Kommando der Einsatzgruppe D umgebracht. (Artikelanfang)