Psychoanalytikerinnen. Biografisches Lexikon

Geschichte der Psychoanalyse in Österreich

Biografien

Die antisemitische Stimmung gegen die Psychoanalyse, von der es hieß, dass sie als "jüdische Wissenschaft" für die nichtjüdische Seele keine Gültigkeit besäße, nahm jedoch zu. Die Psychoanalytiker reagierten entweder mit politischer Abstinenz und Selbstzensur und konzentrierten sich auf die Ausbildung und klinische Arbeit, oder sie verließen das Land. Es gab aber auch WPV-Mitglieder, die einer verbotenen politischen Aktivität nachgingen, wie Annie Angel, Edith Buxbaum und die Ausbildungskandidatinnen Marie Langer, Tea Genner-Erdheim und Muriel Gardiner. Paul Federns Sohn Ernst Federn, der spätere Mitherausgeber der Protokolle der WPV, wurde als Trotzkist und Jude nach Buchenwald verschleppt und verbrachte sieben Jahre im Konzentrationslager.
Mit dem "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland kam 1938 auch hier die Zerschlagung der psychoanalytischen Bewegung. Die WPV lehnte eine "Rettung" der österreichischen Psychoanalyse nach deutschem Vorbild ab und empfahl stattdessen ihren Mitgliedern die Emigration. Noch 1938 wurde die WPV durch den Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich aufgelöst. Dank des Einsatzes von Marie Bonaparte und Ernest Jones auf höchster diplomatischer Ebene wurde es dem schwerkranken Sigmund Freud und seiner Tochter Anna im Juni 1938 gestattet, Wien zu verlassen und über Paris nach London zu emigrieren (Abb.). Mit ihnen gingen beinahe alle Wiener Psychoanalytiker:nnen ins Exil (ca. 100 Analytiker:nnen und Kandidat:nnen). Am 23. September 1939 starb Sigmund Freud, drei Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nur eine kleine Gruppe unter der Führung von August Aichhorn blieb in Österreich und setzte während der Kriegsjahre die psychoanalytische Ausbildung notgedrungen im Rahmen der Wiener Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie ("Göring-Institut") fort.

Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg

Es waren die Mitglieder dieser Gruppe, die nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 die WPV neu gründeten, insbesondere August Aichhorn, der die Präsidentschaft übernahm, Alfred von Winterstein, Wilhelm Solms-Rödelheim, Tea Genner-Erdheim und Igor Caruso. Die WPV wurde 1949 wieder in die Internationale Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen. Der erhoffte Rückstrom emigrierter Wiener Analytiker blieb jedoch aus - Ausnahmen waren Otto Fleischmann und Robert Jokl, die jedoch bald in die USA gingen. Viele Emigrant:nnen, darunter Anna Freud, betraten erst 1971 beim 27. IPV-Kongress in Wien wieder österreichischen Boden. Fortbestehende Vorurteile sorgten dafür, dass die Psychoanalyse in Österreich bis Ende der 1960er Jahre wenig Anerkennung fand. Die WPV verfügte über kein eigenes Publikationsorgan, und es mangelte ihr an wissenschaftlichem Austausch, finanziellen Mitteln und größeren Publikationen.
Nach Aichhorns Tod übernahm Alfred von Winterstein von 1949 bis 1957 die Leitung der WPV, sein Nachfolger war bis 1972 Solms-Rödelheim. 1961 entstand eine Abteilung für Kinderanalyse in der WPV unter der Leitung von Hedda Eppel. Zur populärwissenschaftlichen Verbreitung der Psychoanalyse war 1950 die August-Aichhorn-Gesellschaft gegründet worden, die unter der Leitung von Lambert Bolterauer bis 1968 Vorträge für interessierte Laien veranstaltete und Beratungen durchführte. In diesem Jahr wurde die Sigmund Freud Gesellschaft ins Leben gerufen, die die ehemalige Wohnung und Ordination Freuds in ein Museum umwandelte, um sein Werk einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen (Sigmund Freud Museum).
Igor Caruso, wegen seiner Nähe zur NS-Psychiatrie auch umstritten, ergänzte die Psychoanalyse durch eine christlich geprägte personalistisch-philosophische Anthropologie und schuf 1947 den Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie. In den 1960er Jahren orientierte sich der Arbeitskreis wieder stärker an Freud und wurde 1988 in Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse (WAP) umbenannt.

Entwicklung seit den 1970er Jahren

Wie anderswo auch stieß die Lehre Freuds in den 1970er Jahren auf wachsende Resonanz in der österreichischen Öffentlichkeit. Vor allem das Interesse der Studentenbewegung für die Psychoanalyse trug zu diesem Aufschwung bei, aber auch die Berufung des WPV-Mitglieds Hans Strotzka zum Leiter des neugegründeten Instituts für Psychotherapie und Tiefenpsychologie an der medizinischen Fakultät der Wiener Universität. 1973 wurde als Reaktion auf den gestiegenen Bedarf eine Beratungsstelle der WPV für Kinder und Jugendliche eingerichtet. Von 1974 bis 1978 leitete Harald Leupold-Löwenthal die WPV, anschließend Solms-Rödelheim, Peter Schuster, Wolfgang Berner und Wilhelm Burian. Von 1998 an übernahmen mit Krista Placheta die Frauen die Präsidentschaft. Auf sie folgten Sylvia Zwettler-Otte, Christine Diercks, Elisabeth Skale, Hemma Rössler-Schülein und Renate Kohlheimer. 1999 wurde auch das Ambulatorium der WPV wiedereröffnet. 2006 gründeten die WPV und der WAP die Wiener Psychoanalytische Akademie. Seit 1984 erscheint das Bulletin der WPV.
1969 wurde unter Carusos Führung der Salzburger Forschungs- und Arbeitskreis für Tiefenpsychologie und Psychosomatik am Psychologischen Institut der Universität gegründet. 1974 konstituierte sich der Salzburger Arbeitskreis für Tiefenpsychologie als eigenständiger Verein, der sich ab 1988 Salzburger Arbeitskreis für Psychoanalyse (SAP) nennt. Seit 1981 gab die von Caruso, Rosa Tanco Duque und anderen gegründete Österreichische Studiengesellschaft für Kinderpsychoanalyse die Studien zur Kinderanalyse heraus, bis diese 2004 ihr Erscheinen einstellten. 1984 gründeten Studenten von Igor Caruso, der (als erster Psychoanalytiker) seit 1972 Professor für Psychologie in Salzburg war, das Werkblatt - Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, das bis 2019 eine kritische Einstellung jenseits der institutionalisierten Psychoanalyse vertrat.

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